"Kerers Saite", zuerst erschienen in der Südtiroler Tageszeitung Dolomiten, mit freundlicher Genehmigung.

Aus aktuellem Anlass schauen wir uns heute die Exponentialfunktion näher an (übrigens werden Sie am Ende dieses Artikels wissen, dass auch er selbst einer solchen Funktion gleicht). Denn so erschreckt wie derzeit hat ein exponentielles Wachstum unsere Generationen wohl noch nie. Trotzdem erwartet Sie keine mathematische Lehrstunde, sondern ein einfaches „durch-die-Gegend-Denken“. Exponentielle Prozesse umgeben uns täglich, egal ob es um Verzinsung, den Anstieg der Weltbevölkerung, den Abbau von Koffein oder Alkohol im Blut, den Wertverlust eines Neuwagens oder den radioaktiven Zerfall geht. Selbst die Höhe, die ein losgelassener Flummi (südtirolerisch Hupfballele) nach jedem Aufprall zurücklegt, ist exponentiell abfallend. In der Musik gibt es dieses mathematische Phänomen ebenfalls, denn das Frequenzverhältnis von Intervallen wächst exponentiell. Wenn zwei Töne eine Oktave auseinander liegen, ist das Frequenzverhältnis 2, bei zwei Oktaven wird es zu 4, bei drei Oktaven zu 8 usw. Dieser unvorstellbar rasant wachsende (oder schrumpfende) Prozess ist total faszinierend, weshalb er viele Künstler*innen inspiriert hat. Sogar eine Prise Magie steckt darin, wenn man an die Geschichte vom Schachbrett und den sich verdoppelnden Reiskörnern denkt.

In Zusammenhang mit einer Krankheitsausbreitung artet das Ganze freilich in eine Katastrophe aus, die Kehrseite der Medaille. Es ist klar, dass aktuell zu spät, zu langsam und zu inkonsequent auf einen neuartigen Virus reagiert wurde. Das Ausmaß der jetzigen Pandemie zeigt leider, dass Exponentialfunktionen das menschliche Vorstellungsvermögen überfordern. Oder was würden Sie wählen: Eine Million Euro sofort auf die Hand oder einen Cent, der jeden Tag eines Monats verdoppelt wird? Gut, Sie sind intelligent und wissen, dass ich diese Frage nicht gestellt hätte, wenn ersteres der Fall wäre. Tatsächlich, 31 Tage lang verdoppelt wächst ein Cent auf über 10,7 Millionen Euro an. Das fiese an der Geschichte ist, dass Miss Exponentialfunktion superschlau ist und zu Beginn gerne tiefstapelt. Denn sie beginnt langsam und unscheinbar, um dann plötzlich Fahrt aufzunehmen und schlussendlich zu explodieren. Denken wir an die Entwicklungen der Menschheit: Bändigung des Feuers – Erfindung der Schrift – Buchdruck – Dampfmaschine – Elektrische Energieversorgung – Penicillin – Computer – Internet – Mobilfunknetze – digitale Speichermedien – autonomes Fahren – künstliche Intelligenz… Die Geschwindigkeit des Fortschritts nimmt ständig zu, vielleicht sogar exponentiell? Fakt ist, dass uns ein mikroskopisch kleines Virus, gegen das wir uns hätten wappnen können und müssen, völlig aus der Bahn geworfen hat. Trotz all des Fortschritts und wider besseres Wissen hat uns die Exponentialkurve völlig überfahren. Irren ist vielleicht menschlich, aufgrund blauäugiger Hoffnungen zu agieren und zu regieren ist jedoch grob fahrlässig.